Pirmin Meier:
Mord, Philosophie und die Liebe der Männer. Franz Desgouttes und Heinrich Hössli.

Eine Parallelbiographie, Zürich/ München: Pendo Verlag 2001, 389 S., € 24,90

Rezension von Roger Portmann, Zürich

Erschienen in Invertito 4 (2002)

Erdrosselt, gerädert und verlocht wird am 30. September 1817 im bernerischen Aarwangen der Doktor der Rechte Johann Franz Niklaus Desgouttes. Die Bevölkerung feiert dieses erschütternde Fest der Hinrichtung mit großer Anteilnahme. Das Volk ist wieder bei Kräften, nachdem der Hungerwinter 1816/17 und mit ihm die letzte große Hungersnot in der Schweiz vorbei ist. Vor ein paar Monaten noch musste man herumstreunende Hunde und Katzen kochen, Blutsuppe und Knochenmehl essen oder sich mit Klee am Leben erhalten. Jetzt aber werden auf dem Marktplatz nach dem Spektakel Brötchen verteilt. Man diskutiert dabei gewiss über die aufwühlende, selbstanklägerische Standrede, welche der 32-jährige Rechtsanwalt Desgouttes in den letzten Minuten seines Lebens auf der Schmachtribüne gehalten hat. Als ein abgeurteilter Meuchelmörder, der einen Monat zuvor in blindem Furor, erfüllt von Irrsinn und geplagt von mystischen Horrorerscheinungen, seinen um zehn Jahre jüngeren Kanzleigehilfen und Schreiber Daniel Hemmeler erstochen hat.

Rund zwei Jahrzehnte später: Im ostschweizerischen Glarus veröffentlicht der handelsreisende Textilkaufmann und Modemacher Heinrich Hössli den ersten Band seines Eros. Der Glarner, ein belesener philosophischer Autodidakt, berichtet in ausschweifenden Satzperioden und mit unermesslichem Sendungsbewusstsein über die "Männerliebe der Griechen, ihre Beziehungen zur Geschichte, Erziehung, Literatur und Gesetzgebung aller Zeiten". Das Buch wird verboten. Der zweite Band, gedruckt in St. Gallen, verglüht zu einem großen Teil in einer Feuersbrunst. Und vor der Herausgabe des geplanten dritten Bandes resigniert Hössli. Nach vielen unsteten Jahren der Wanderschaft stirbt der kauzige Mann im Jahr 1864 verhärmt und vereinsamt.

Was haben diese zwei Schweizer gemeinsam und was legitimiert eine Doppelbiographie über beide Personen? Beide galten zu ihrer Zeit (ihre Geburtstage liegen nur wenige Monate auseinander) als einsame Sonderlinge: Hier der sentimentale Romantiker und zerstreute Fantast Desgouttes, der sich nicht verheiraten wollte, der seine Trunk- und Opiatsucht nur schwer kontrollieren konnte und - dies wusste freilich niemand außer ihm - unter seiner "Onaniersucht" litt. Dort der aus einfachen Verhältnissen stammende, auf Damenmode spezialisierte Tuchhändler, der sich oft in Selbstgesprächen erging, sich für Literatur interessierte und ein unbürgerliches Leben führte. Vor allem aber verband die beiden die Liebe zu Männern (die Bezeichnung Homosexualität existierte damals noch nicht). Desgouttes liebte seinen Daniel abgöttisch. Er wachte mit Argusaugen über den schon als Lehrling bei ihm wohnenden "Lieblingsfreund", machte ihm teure Geschenke, förderte ihn, dokterte gelegentlich an ihm herum, versuchte ihn mit Aphrodisiaka gefügig zu machen - und meuchelte ihn aus verzweifelter Eifersucht. Hössli gab sich selbst zwar nie unverblümt als "Männlichliebenden" zu erkennen, machte sich aber mit seinem Werk Eros zum ersten radikalen, mit der Macht der Worte kämpfenden Anwalt für den gleichgeschlechtlichen Eros, der ihm selbst nicht unbekannt gewesen sein dürfte. Den Anlass zu diesem Kampf gab Hössli die Nachricht vom Schicksal des Franz Desgouttes, den er jedoch nicht persönlich gekannt hatte.

Mit Mord, Philosophie und die Liebe der Männer liegt eine Doppelbiographie vor, die sich der Leben von Desgouttes und Hössli annimmt. Dem Schweizer Pirmin Meier, Autor von Biographien anderer helvetischer Außenseiter, ist ein großer Wurf gelungen. Aber, und dies sei geklagt, in mancher Hinsicht auch ein ärgerliches Buch.

Mit einer stupenden Sprachgewalt malt Meier Lebensbilder von großer Plastizität. Nach einem etwas betulichen Prolog tritt dem Leser im ersten, weitaus größeren Teil mit Franz Desgouttes ein Mensch entgegen, der in Tübingen eine ausgezeichnete Doktorarbeit geschrieben hat, dessen Ruf in Langenthal, wo er seine Anwaltskanzlei führt, jedoch angeschlagen ist. Man weiß dort, dass er trinkt, spielt, Schulden macht und einen lockeren Umgang mit der Pistole hat. Die inneren Katastrophenlagen des Desgouttes werden minutiös ausgebreitet, etwa dass ihm sein Liebesobjekt Daniel Hemmeler einfach nicht willig wird und sich mit Frauen herumtreibt, oder wie Desgouttes stets tiefer in seine verschiedenen Süchte und in Depressionen abgleitet. Mit logischer Konsequenz drängt die Handlung vorwärts auf den Abgrund zu, bis Desgouttes in geistiger Umnachtung seinen Angebeteten ersticht und danach sein eigenes "sündiges Leben" öffentlich verurteilt, ohne je eine erfüllte Liebe gekannt zu haben. Meier breitet ein Universum von Persönlichkeiten aus, die mit Desgouttes in Verbindung standen und beleuchtet die damaligen sozialen, politischen, religiösen Verhältnisse, die eine Männerliebe nicht lebbar machten. Die Quellenlage ist sehr vorteilhaft, die umfangreichen Prozessakten, Desgouttes' Tagebuch und eine entschärfte Version seiner Autobiographie sind immer noch greifbar; der Autor schöpft also aus dem Vollen. Zugunsten einer größeren Stringenz der Erzählung wären hier und da Kürzungen angebracht gewesen, und die enzyklopädische Gelehrtheit, die uns der Autor in unzähligen Exkursen vermitteln will, stört zuweilen.

Papieren ist der kleinere, rund 100 Seiten umfassende Teil über Hössli ausgefallen. Zwar gibt es auch hier einige lebendige Passagen, etwa wenn die radikaldemokratische Gärung im damaligen Glarus beschrieben wird. Der Kanton befand sich in einem dynamischen Aufbruch, der aber nicht so weit ging, dass Hössli seinen Eros hätte veröffentlichen dürfen - dies wäre den evangelisch-reformierten Kirchenbehörden dann doch zu viel des Neuen gewesen. Ergreifend die Schilderung, wie Jahre später (1861) weitere Kalamitäten über den 77-jährigen Glarner hereinbrechen: Seine Gattin, von der er fast zeitlebens getrennt lebte, ist schon gestorben, sein älterer Sohn schon verschollen, als den alten Mann die Nachricht erreicht, sein über alles geliebter jüngerer Sohn Hansueli sei auf der Heimreise nach Europa bei einem Schiffsunglück vor Halifax ums Leben gekommen. Und gleichentags zerstört ein Großbrand die noch übrig gebliebenen Bände des Eros: Man spürt, wie Hösslis Leben sich verdunkelt. Ansonsten jedoch ist die Biographie über den Glarner eher flach und kommt selten über das hinaus, was Ferdinand Karsch-Haack (ab 1900 in Deutschland regelmäßiger Publizist wissenschaftlicher Arbeiten zur Homosexualität) vor rund einem Jahrhundert über den "Putzmacher" und Schriftsteller veröffentlicht hat oder was im Materialienband zum Nachdruck des Eros (1996 im Verlag rosa Winkel) nachzulesen ist. Die Quellen sind spärlich: Der Nachlass Hösslis wurde 1902 vermutlich von Karsch-Haack aufgekauft und ist seit dessen Tod verschwunden. Und auf schon fast gespenstische Weise - und aus unerklärlichen Gründen - lässt Pirmin Meier den Leser im Unklaren, was denn Hössli in seinen beiden Bänden Eros nun eigentlich geschrieben hat.

Heinrich Hössli gilt heute als Ahne der Homosexuellenbewegung, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, etwas später auch in der Schweiz, zu artikulieren begann und sich auch auf ihn berief. Schon lange ist eine zeitgenössische historisch-kritische Würdigung von Hösslis Leben und Werk fällig. Die romanhafte "historiographische Erzählung", wie Meier sein Werk selbst bezeichnet, kann (und will) diese Aufgabe nicht übernehmen. Dafür ist die Quellenkritik zu wenig systematisch, sind zu viele Mutmaßungen enthalten und zu viele Ungenauigkeiten: Die Überhöhung von Glarus als für die Schweizer Geschichte wegweisender radikaldemokratischer Kanton scheint mir zum Beispiel verfehlt, da sich einige Jahre vor Glarus, d.h. vor 1836, bereits andere Kantone liberale Verfassungen gegeben und damit die konservative Restauration überwunden hatten. Und ein Register, das beispielsweise einen Überblick über die Fülle der vielen nur kurz portraitierten Persönlichkeiten ermöglichen würde, fehlt leider.

Meiers Eloquenz vermag oft wunderbare Sprachbilder hervorzuzaubern und verleiht manchen Szenen Buntheit und Präzision. Zuweilen jedoch ruft seine Sprachgewalt eher Kopfschütteln und Verärgerung hervor, vor allem wenn sein Duktus ins Gestelzte und Verschwurbelte kippt. Manchmal schreit es einem gar laut und aufdringlich entgegen, dass dieses Buch große Literatur und hohe Kunst sein will. Vor allem im Prolog, der ja nicht nur die Personen einführen, sondern auch die Lust zum Weiterlesen wecken sollte, schrecken sie eher ab, prätentiöse Formulierungen wie jene, dass Hössli "seine Augen wappnete für den Blick in Gründe, Abgründe, Wiesengründe, welche die herkömmlichen Liberalen und Radikalen nicht kennen". Ob solch schiefen Sprachbildern schaudert es oder "tschuderet's" einen, um hier einen Helvetismus zu benützen, der von Pirmin Meier nicht aus der Schweizer Wortschatzkiste hervorholt wurde.

Trotz dieser ärgerlichen Dinge bietet das Buch zu einem guten Teil einen fesselnden und differenzierten Einblick in zwei Leben gleichgeschlechtlich Liebender in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Autor vermag neue Impulse zu geben für einige Aspekte im Leben von Desgouttes und Hössli, die im Rahmen der Schweizer Geschichte und/oder der Geschichte der Homosexualitäten auf einem geeigneten theoretischen Fundament aufgegriffen werden müssten. Meier beschreibt, wer Desgouttes und Hössli gewesen sein könnten. Wünschenswert wäre nun eine umfassende Untersuchung der Rezeption von Hösslis Ideen. Zu erforschen wäre auch die Bedeutung der beiden Schweizer in jenem Prozess, der zur Entstehung einer Foucault'schen "homosexuellen Persönlichkeit" im 19. Jahrhundert geführt hat.




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