Wolfgang Förster / Tobias G. Natter / Ines Rieder (Hg.):
Der andere Blick.

Lesbischwules Leben in Österreich. Eine Kulturgeschichte
Wien 2001, 288 S. (nicht im Buchhandel erhältlich)

Rezension von Herbert Potthoff, Köln

Erschienen in Invertito 4 (2002)

Ein Katalog zu einer Ausstellung, die nicht stattgefunden hat, wird nicht alle Tage vorgelegt. Geplant war die Ausstellung zum Europride Wien 2001. Sie fand nicht statt, weil der Herr Hofrat, der das historische Museum der Stadt Wien leitet, entschied, "sein" Museum stünde für eine schwullesbische Kulturgeschichte nicht zur Verfügung (Vorwort).

Konzipiert ist der Katalog wie ein vielstimmiges Orchesterwerk; die Abschnitte heißen denn auch z.B. "Preludio", "Intermezzo maestoso", "Crescendo" oder "Rondo" - eine Spielerei, die nicht immer überzeugt. Der großformatige Band umfasst 28 Artikel, ein Drittel von Autorinnen - zu viele, um sie hier einzeln vorzustellen. Die meisten Texte liegen zeitlich zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart. Nur wenige Ausnahmen überschreiten diesen Rahmen, so z.B. das "Preludio" (Wolfgang Nedobity: "In ein Frauenzimmer Kleid ..." Die Kultivierung des Fummels im 18. Jahrhundert) und der Artikel von Michaela Lindinger ("... ich küße dein ertzenglisches arscherl." Homosexuelle Tendenzen im Hause Habsburg), der ebenfalls bis ins 18. Jahrhundert zurückgreift. Ein Teil der Artikel ist hervorragend illustriert, vor allem die beiden Texte von Tobias G. Natter (Hesperidenland und "schwule Palette". Bilder einer Wiener Privatsammlung; "Wunschfenster einer unfrohen Seele". Zu den Männerakten von Anton Kolig); manche Abbildung zu den übrigen Artikeln hätte man sich größer gewünscht.

Für mehrere der Artikel ist der Untertitel "Lesbischwules Leben" nicht offen bzw. weit genug gefasst. Anton Koligs Männerakte z.B. gehören sicher zum umfangreichsten und beeindruckendsten Werk dieses Genres, aber wenn Kolig, Familienvater, sie selbst als "Wunschfenster einer unfrohen - einsamen Seele" bezeichnet und über sich schreibt "Denn Hunde, welche malen, beissen nicht" - dann muss man im Widerspruch zur akademischen Kunstgeschichtsschreibung zwar auf den homoerotischen Gehalt dieser Männerakte hinweisen, den Künstler selbst kann man aber keinesfalls als "schwul" vereinnahmen (was Natter allerdings auch nicht tut). Auch andere Artikel lassen sich nicht ohne weiteres unter den Begriff lesbischwul subsumieren. Das gilt für den bereits erwähnten Text von Wolfgang Nedobity und ebenso für Gloria G.s: Queer durch. Körperpolitik in Österreich am Beispiel Transgender. Von Lesbenknaben, phallischen Frauen, Genderbenders, ÜberläuferInnen des Geschlechts - ein "Bericht über das Niemandsland zwischen Mann und Frau, oder besser gesagt, zwischen männlich und weiblich". Die Autorin plädiert darin leidenschaftlich, ohne sich an die Konventionen eines Sammelbandes mit wissenschaftlichen Ansprüchen zu halten, für die "Überwindung der geschlechtlichen Zwangsordnung". Auch Elisabeth Klocker (Es lebe die Lust an der Provokation: Unartige Künstlerinnen und Exzentrikerinnen innerhalb der lesbischen Community) beschreibt Frauen, die die Grenzen der Geschlechterrollen durch Travestie, Crossdressing oder Übernahme männlicher Größenwahnphantasien ("Kaiserin SI.SI von Europa") in Frage stellen. Die Frage der "sexuellen Identitäten" wird ebenfalls von Hanne Hacker (Lavendelfräulein bis Postqueerstoire) diskutiert; gleichzeitig macht sie in ihrem Artikel, der kein Originaltext ist, sondern auf bereits Publiziertes zurückgreift, Probleme lesbischer Geschichtsforschung deutlich. Diese Probleme spricht auch Ines Rieder (Auf der Bühne(:) Der (Die) Bourgeoisie. Lesbisches Leben in Wien bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts) an, wenn sie von "halb freigelegten Spuren" spricht und solchen, "die gut verdeckt sind und deshalb auch schnell im Sand verlaufen".

Unterdrückung und Verfolgung, lange Zeit beherrschendes Thema der Beschäftigung mit homosexueller Geschichte, werden im vorliegenden Sammelband natürlich nicht ausgespart, zumal in Österreich, anders als in Deutschland und der Schweiz, auch sexuelle Handlungen zwischen Frauen bis 1971 nach §129 I b StG mit strafrechtlichen Sanktionen bedroht waren. Über die Anwendung dieses Paragraphen ist allerdings wenig bekannt; das liegt nicht nur an den lückenhaften Archivbeständen. Neda Bei (Die sozial unschädliche Verbrecherin: Frauen und der § 129 I b StG) dokumentiert vier "Fallfragmente" aus den Jahren 1887, 1924 und 1948/49. Für die Zeit danach ist, nach Bei, kein einziger Fall bekannt geworden, bei dem eine Frau nach § 129 bestraft wurde. Niko Wahl ("Dame wünscht Freundin zwecks Kino und Theater". Verfolgung gleichgeschlechtlich liebender Frauen im Wien der Nazizeit) ergänzt Beis Ausführungen um einige Fälle aus der NS-Zeit. Sein Fazit: "Die Geschichte der Verfolgung lesbischer Frauen liegt immer noch weitgehend im dunkeln." Martin Achrainer ("... eine Art gefährlicher Volksseuche ..." Die Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus in Tirol) beschreibt die Verschärfung der Homosexuellenverfolgung nach dem "Anschluss" in einem katholisch geprägten und eher ländlich strukturierten Teil Österreichs. 1938/39 werden allein in Innsbruck fast 200 Männer angezeigt, auch in den Landbezirken werden "größere Zirkel" von Homosexuellen ausgehoben; unter den Angezeigten befindet sich nur eine Frau (die Anzeige hatte ihr Ehemann im Rahmen einer Auseinandersetzung um Scheidung und Besitzteilung erstattet). Der Innsbrucker Landgerichtspräsident begründet das Vorgehen lakonisch: Sittlichkeitsdelikte würden "jetzt eben gleich dem Wilddiebstahl schärfer erfasst". Von etwa 300 angezeigten Männern werden ca. 200 verurteilt; das erstinstanzliche Urteil wird in der Regel im Revisionsverfahren beträchtlich erhöht, Achrainer vermutet auf Druck des Reichsjustizministeriums. Seriöse Aussagen über KZ-Einweisungen österreichischer Homosexueller sind nach Achrainer nicht möglich. Wie in Deutschland werden auch in Österreich die Homosexuellen nach dem Krieg nicht als NS-Opfer anerkannt (Hannes Sulzenbacher: Keine Opfer Hitlers. Die Verfolgung von Lesben und Schwulen in der NS-Zeit und ihre Legitimierung in der Zweiten Republik).

Zwei umfangreiche Abschnitte beschäftigen sich schließlich mit homosexueller Geschichte jenseits von Verfolgung und Unterdrückung, so zum einen mehrere Artikel, die sich mit dem, so die Herausgeber, "weniger tabuisierten Bereich der Literatur und der bildenden Kunst" beschäftigen (etwa mit lesbischen Heldinnen und Identitäten in der österreichischen Frauenliteratur, mit der Sexualmoral der "Fackel" oder mit homoerotischen Spuren bei Heimito von Doderer). Den Abschluss des Bandes bilden sechs Texte, die die lesbische und schwule Emanzipationsbewegung seit Mitte der 1970er Jahre behandeln; sie spannen einen Bogen von der Gruppe "Coming out", die 1975 am Anfang der österreichischen Schwulenbewegung steht, bis zur Aids-Hilfe-Arbeit in Wien und zur "Regenbogen-Parade als kulturelles Phänomen".

Insgesamt zeichnet der Band ein facettenreiches Bild von hundert Jahren homosexueller Geschichte in Österreich, macht aber auch deutlich, dass eine umfassende Darstellung noch (?) nicht möglich ist. Wenn man vom Katalog auf die verhinderte Ausstellung schließen kann, muss man bedauern, dass sie nicht stattgefunden hat.

Eine Schlussbemerkung aus Kölner Sicht: Über die homosexuelle Geschichte Kölns im 18. Jahrhundert ist so gut wie nichts bekannt; umso erfreulicher fand ich, dass Wolfgang Nedobity auf ein Büchlein hinweist, das 1710 in Köln erschien (Sarcander: Amor auf Universitäten) und nach seiner Lesart gleichgeschlechtliche Vergnügungen und Travestie unter Kölner Studenten schildert. Dass das Werk (das Erzählte ist "warhafftig so passiret") in Köln gedruckt wurde, heißt nicht, dass sich das Geschilderte in Köln ereignet hat; Sarcander verzichtet ausdrücklich auf konkrete Ortsangaben und wenn er von Friedrichstadt oder Lindenstadt spricht, würde ich, wenn es damals dort schon eine Universität gegeben hätte, eher an Berlin als an Köln denken. Was die Homoerotik angeht: Wenn ein Student allein (!) im Bett eines andern schlafend angetroffen wird oder ein anderer, weil er der "Liebes-Intriguen" mit "Frauenzimmern" zeitweilig überdrüssig ist, die "Compagnie" von Frauen flieht und sich mit seinem Freund die Zeit "bey einen Glaß Bier und ein vertraut Gespräche" verkürzt - dann ist es vielleicht doch etwas gewagt, das als "gleichgeschlechtliches Vergnügen" hinzustellen. Was die Travestie betrifft: Fortunato steckt sich zwar "in ein Frauenzimmer Kleid", um die geliebte Ardorea unverdächtig treffen zu können; wenn man aber Travestie nicht als einmalige Maskerade, sondern als bewusste Überschreitung der Geschlechtergrenzen versteht - dann ist auch hier die Interpretation wenig überzeugend.




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