Annamarie Jagose:
Queer Theory. Eine Einführung

hrsg. u. übers. v. Corinna Genschel / Caren Lay / Nancy Wagenknecht / Volker Woltersdorff,
Berlin: Querverlag 2001, 220 S., € 15,50

Rezension von Ulf Heidel, Hamburg

Erschienen in Invertito 4 (2002)

Queer Theory stellt ein noch junges Feld der Theoriebildung dar, das vor gut zehn Jahren hauptsächlich an US-amerikanischen Universitäten aus der Taufe gehoben wurde. Entscheidendes Moment ihrer Entstehung war die Frage, wie Heterosexualität als normative Ordnung kritisiert werden kann, ohne (vorrangig) aus der Perspektive schwuler oder lesbischer Identität heraus zu argumentieren. Denn während die schwule und lesbisch-feministische Forschung und Bewegungspolitik seit den 70er Jahren weitgehend auf der Annahme basierte, dass Emanzipation von der offensiven Sichtbarkeit einer eigenen sexuellen und gewissermaßen oppositionellen Identität abhinge, so entstand Queer Theory vor dem Hintergrund der Infragestellung dieser Annahme und wurde somit selbst zum Symptom des in die Krise geratenen identitätspolitischen Denkens.

Diese theoriegeschichtliche Entwicklung und ihre bewegungsgeschichtlichen Hintergründe zu erläutern, ist das Anliegen von Queer Theory - Eine Einführung von Annamarie Jagose, Professorin für feministische Theorie und Lesbische und Schwule Studien in Melbourne. Im Original bereits 1996 veröffentlicht, schließt die im letzten Jahr erschienene deutsche Übersetzung in der hiesigen Forschung die Lücke für NeueinsteigerInnen, die sich bisher mit einer verstreuten, ganz überwiegend englischsprachigen Literaturlage konfrontiert sahen. Annamarie Jagose nähert sich dem Phänomen Queer Theory, indem sie in einem einleitenden Kapitel zeigt, wie die Kategorie Homosexualität ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit nach und nach beraubt worden ist. In Weiterführung des Konstruktivismus, der schon in den 70er und vor allem 80er Jahren die Annahme überzeitlicher sexueller Identitäten problematisiert hat, betrachte Queer Theory Homosexualität nicht als natürliches Wesensmerkmal einer gesellschaftlichen Minderheit, wie sie jederzeit und überall in der Menschheitsgeschichte anzutreffen sei. Vielmehr bezeichne sie ein Identitätskonzept, das erst in der westlichen Moderne und im Zusammenspiel verschiedenster Faktoren habe entstehen können: Je nach Erklärungsansatz werden dabei die juristische Verfolgung, die medizinische bzw. psychiatrische Pathologisierung, die gesellschaftliche Tabuisierung oder auch die Ausbildung spezifischer Beziehungs- und Solidaritätsformen, eigener Subkulturen sowie politischer Interessenvereinigungen als wesentliche Momente für die Entstehung des bzw. der Homosexuellen als Typus hervorgehoben. Zudem wird darauf verwiesen, dass Homosexualität nur innerhalb der Matrix der modernen Zwei-Geschlechter-Ordnung denkbar sei und dass weibliche und männliche Homosexualität darin auch völlig verschiedenen Bedingungen unterliegen. Weder der antike Päderast noch die Two-Spirits, die dritte und vierte Geschlechter innerhalb der indigenen Kulturen Nordamerikas bildeten, können demnach unter das Modell Homosexualität subsumiert werden.

Aber Queer Theory bleibt nicht auf die Problematisierung von sexueller Identität beschränkt, sondern betrachtet Sexualität als eine Form der Vergesellschaftung, in die notwendigerweise jedes Subjekt, jeder Körper verstrickt ist. In Berufung auf hierzulande relativ unbekannte TheoretikerInnen wie David M. Halperin oder Eve Kosofsky Sedgwick markiert Jagose den gesellschaftskritischen Anspruch von queer, dem gemäß das ganze System der zur Natur (v)erklärten Sexualität in den Blick zu nehmen ist. Eine solche Entnaturalisierung mache sichtbar, wie die wissenschaftlich abgesicherte Unterscheidung des "Anomalen" oder "Krankhaften" vom "Normalen" und "Gesunden" den Komplex Sexualität - und damit auch das Wissen um die eigene Identität - begründe. Gerade hierin liegt ja die Crux der schwulen und lesbischen Identitätspolitik, dass auch die widerständige Umdeutung der eigenen Andersheit die fundamentale Matrix von homo/hetero zwangsläufig bestätigt.

An diesen anschaulichen Problemaufriss queerer Kritik schließt Jagose eine ausführliche Darstellung der bewegungs- und theoriegeschichtlichen Entwicklungen bis zur Entstehung von Queer Theory an. Jeweils ein Kapitel widmet Jagose der Homophilenbewegung, worunter sie alle Organisationen bis zum Einschnitt von Stonewall 1969 fasst, der Gay Liberation und dem Lesbischen Feminismus sowie schließlich - unter der Überschrift "Grenzen der Identität" - den "internen" Auseinandersetzungen der 80er Jahre, die queer den Weg ebneten. Wenngleich dabei die theoretischen Debatten über (Homo-)Sexualität und Geschlecht im Vordergrund stehen, zeigt die Darstellung deren enge Wechselwirkung mit der jeweiligen Bewegungspraxis auf. Dabei ist Jagose stets darum bemüht, den verschiedenen Formen des Selbstverständnisses und der gesellschaftlichen Verortung seit dem späten 19. Jahrhundert gerecht zu werden, und entgeht in ihrer differenzierten Darstellungsweise vorschnellen Vereinfachungen. So mag das emanzipatorische Potenzial des assimilatorischen Politikansatzes, wie ihn etwa die US-amerikanische Mattachine Society in den 50er und 60er Jahren vertrat, im Verhältnis zur offensiven Proklamation eigener Perversion zu Beginn der Gay Liberation als gering erscheinen. Möglich wurde diese Radikalität aber erst durch die Entstehung der Neuen Sozialen Bewegungen und ihrer Massen mobilisierenden Wirkung sowie durch eine grundsätzliche Problematisierung der Zwänge von "Geschlechterrollen", deren Überwindung nun zur Bedingung einer sexuellen Befreiung aller erklärt wurde. Zeigt sich hierin eine Verbindung zur Frauenbewegung, so legt Jagose doch Wert auf die eigenständige Entwicklung des Lesbischen Feminismus, der angesichts des auch in der Gay Liberation reproduzierten Sexismus oftmals Geschlecht als das paradigmatische Unterdrückungsverhältnis betrachtete und entsprechend wenig politische Gemeinsamkeit mit den schwulen "Brüdern" entdecken konnte.

Wenngleich Jagoses historische Hinführung zu queer insgesamt etwas umständlich erscheint und insbesondere die Ausführungen zur frühen deutschen Emanzipationsbewegung sachliche Ungenauigkeiten aufweisen, kann die Autorin auf diesem Weg eine in sich differenzierte Grundlage für die eigentliche Darstellung der Queer Theory bieten. Diese beginnt mit einer kurzen Übersicht über die Hinterfragung der metaphysischen Konzepte Subjekt und Identität durch den Poststrukturalismus, die queer als "intellektuelles Modell" (101) erst ermöglichte und mit neueren Entwicklungen im Feminismus sowie der postkolonialen Kritik verbindet. Im Anschluss an die Theorien von Louis Althusser, Jacques Lacan oder Michel Foucault müsse Identität als ein stets provisorisch bleibendes Moment innerhalb eines nie abgeschlossenen Prozesses gedacht werden, in dem sich ein "Ich" in der Abgrenzung von einem "Anderen" erzeuge. Insofern in dieser theoretischen Perspektive Homosexualität als "Anderes" der Heterosexualität ebensowenig wie diese selbst einen authentischen Kern besitze, gehe es für Queer Theory auch nicht mehr um die Befreiung eines "wahren Ich", sondern um eine nachhaltige Störung jener Identifikationsprozesse und ihrer unvermeidlichen Ausschlüsse und Abwertungen. Jagose zeichnet diese komplexen Gedankengänge vor allem in der Vorstellung Judith Butlers nach, deren Bücher die wechselseitige Stabilisierung von eindeutigen, einheitlichen Geschlechtsidentitäten und normativer Heterosexualität analysieren.

Obwohl außer Butler zahlreiche weitere Queer-TheoretikerInnen darauf bestehen, dass Geschlecht und Sexualität als eigenständige, aber eng miteinander verflochtene Komplexe behandelt werden müssen, wurde v.a. seitens des Lesbischen Feminismus moniert, dass Lesben ihre immer noch prekäre Sichtbarkeit im geschlechtsneutralen queer wieder zu verlieren drohten. Mit dieser und weiteren Kritikpunkten an queer setzt sich Jagose abschließend auseinander. So kommt die Frage nach einer potenziellen Legitimierung umstrittener Sexualitäten durch einen ethischen Relativismus ebenso zur Sprache wie der Vorwurf, die queere Subversion von Geschlechternormen gehe mit den neoliberalen Flexibilitätsanforderungen an die Individuen konform und huldige einer "Identitätspolitik in Form des postmodernen Warenfetischismus" (Lee Edelman) (138). Jagose erweist sich hierin als eine geschickte Verteidigerin der Queer Theory, indem sie queer nicht auf ein Programm zu fixieren sucht. Denn dessen Stärke liege gerade in seiner "Unbestimmtheit", da sich das "demokratische Potential" (164) von queer aus der Offenheit für Kritik und der permanenten Reflexion der eigenen politischen Wirkungen ableite.

Jagose ist eine klare und dabei differenzierte Darstellung der Geschichte und der Grundkonzepte queerer Theoriebildung gelungen, die angesichts der mittlerweile breiteren Rezeption und Aufnahme auch in der deutschsprachigen Forschung eine bisher bestehende Lücke schließt. Wenn sie dabei einerseits nicht unbedingt die analytische Tiefenschärfe der zugrunde liegenden Texte wiedergeben kann und andererseits Leerstellen der bisherigen Theorieproduktion wiederholt, so ist dies auch dem Charakter einer Einführung geschuldet - ein Mangel, der zumal von den klugen Anschlüssen der HerausgeberInnen und ÜbersetzerInnen mehr als ausgeglichen wird. Diese zeichnen nicht allein die weitere Entwicklung zwischen Ersterscheinen und Übersetzung nach und loten die Problematik des "Theorie-Imports" unter den spezifischen Bedingungen in der BRD aus, sondern suchen auch die kritische Auseinandersetzung mit Jagoses Einführung. Eingeklagt wird dabei insbesondere eine Perspektive, die nicht allein die community-interne Identitätskritik, sondern verstärkt Heteronormativität ins Visier und deren Relation zu anderen gesellschaftlichen Machtverhältnissen ernster nimmt. Die wenigen Andeutungen Jagoses zur Verknüpfung von Sexualität und Rassismus sowie zu den Formen kapitalistischer Vergesellschaftung markieren den HerausgeberInnen zufolge blinde Flecke der Queer Theory, die ihren gesellschaftskritischen Anspruch empfindlich einschränken. Zudem habe sich das politische und wissenschaftliche Feld von queer seit 1996 dadurch verändert, dass sich vor allem in den USA eine Transgender-Bewegung zu Wort gemeldet hat und auf die - auch durch queer reproduzierten - Ausschlüsse und Abwertungen geschlechtlicher Transgression aufmerksam gemacht hat. Die Erweiterungen, die der Einführungstext von Jagose so erfährt, bekräftigen somit das demokratische Potenzial von queer als einem "Feld von Möglichkeiten" (13). Sie warnen aber auch berechtigterweise vor einer radikalen Offenheit, welche die soziale Pluralität feiert, ohne noch sehen zu wollen, dass den Differenzen immer die gesellschaftlich gewordenen Machtverhältnisse eingeschrieben sind.




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