Florence Tamagne:
Histoire de l'Homosexualité en Europe. Berlin, Londres, Paris

("L'univers historique"), Paris: Seuil 2000, 698 S., 220 FFR

Rezension von Sabine Puhlfürst, München

Erschienen in Invertito 3 (2001)

Florence Tamagne, geboren 1970, betrieb zunächst historische Studien zur Homosexualität in England, bevor sie ihre länderübergreifende Doktorarbeit verfasste. Histoire de l'Homosexualité en Europe ist die gekürzte Fassung der Anfang 1998 am "Institut d'études politiques de Paris" unter der Betreuung des renommierten französischen Historikers Jean Pierre Azéma entstandenen Doktorarbeit mit dem Titel Recherches sur l'homosexualité dans la France, l'Angleterre et l'Allemagne du début des années vingt à la fin des années trente, à partir de sources partisanes, policières, judiciaires, médicales et littéraires. Ziel war es, die Arbeit durch entsprechende Kürzungen einem breiteren interessierten Lesepublikum zugänglich zu machen. Dennoch ist Histoire de l'Homosexualité en Europe nicht nur wegen des Umfangs von rund 700 Seiten, sondern vor allem wegen der äußerst genauen Quellenanalysen und der detaillierten Bibliographie eine wissenschaftliche Arbeit geblieben.

Grundlage der Arbeit bilden Quellen aus den Bereichen Medizin/ Sexualwissenschaft, Strafrecht, Polizeiakten/Kriminalstatistiken, Literatur sowie Pamphlete/Hetzschriften. Dieses äußerst heterogene Quellenmaterial ermöglicht es Tamagne, ein überaus differenziertes Bild der Homosexualität im behandelten Zeitraum von 1919 bis 1939 zu entwerfen. Ihre Arbeit besteht aus drei Teilen: Im ersten Teil untersucht sie die 20er Jahre (Un court apogée: les années vingt, années de libération homosexuelle); der zweite Teil beschäftigt sich mit dem von Ängsten, Widersprüchen und Stereotypen geprägten Bild des Homosexuellen (Peurs et désirs inavoués: discours ambivalents et images stéréotypées); im dritten Teil stellt sie die 30er Jahre vor (Une tolérance factive: le poids de la répression et le reflux des années trente).

Zu den von ihr unterschiedenen Zeitspannen (Liberalisierungsphase der 20er Jahre; Phase der wieder auflebenden Repression in den 30er Jahren) wurde in Frankreich bislang kaum geforscht. Die dortigen historischen Studien haben sich bislang hauptsächlich mit der Zeit um die Jahrhundertwende beschäftigt. Somit besteht der Wert der Arbeit vor allem darin, die historische Forschung aus ihrem einseitigen, sprich nationalen Blickwinkel gelöst zu haben, indem zum ersten Mal länderübergreifende und -vergleichende Studien betrieben wurden, wobei Tamagne die drei Metropolen Berlin, London und Paris ins Zentrum stellt. Damit trägt die Untersuchung dazu bei, eine Geschichte der Homosexualität in Europa zu entwerfen, auch wenn die Arbeit notwendigerweise durch die räumliche Einschränkung auf die drei Hauptstädte unvollständig bleiben muss. Durch diese Einengung der Analyse erhält man zudem lediglich ein Bild von der Situation Homosexueller in der Großstadt, beziehungsweise in drei bestimmten Großstädten. Gleichzeitig aber ermöglicht die Ähnlichkeit der drei ausgewählten Staaten - zur damaligen Zeit europäische Großmächte - trotz ihrer unterschiedlichen politischen Entwicklung im Laufe der 30er Jahre der Autorin, Homosexualität in eine politische, ökonomische und soziale Dimension innerhalb Europas einzubetten.

So ist ein wesentliches Ergebnis ihrer vergleichenden Analyse, dass sich Homosexuelle in Berlin eher im geselligen Rahmen der Vereine, Clubs, Lokale und Bars trafen, d.h. eine homosexuelle Gemeinschaft existierte, was in Paris überhaupt nicht der Fall war; dort war Homosexualität viel eher 'individualistisch' ausgeprägt. In London hingegen kann, vornehmlich im Umfeld der intellektuellen Eliten, von einer Art 'Sozialgemeinschaft' gesprochen werden. Das Spezifische des Werkes, was wohl auch den kommerziellen Erfolg in Frankreich ausmacht, besteht aber eher darin, die Frage nach der homosexuellen Identität zu stellen und sie im europäischen Kontext zu beantworten. Dabei lässt Tamagne keineswegs außer Acht, wie groß der Druck war, der durch die Vorurteile der dominierenden heterosexuellen Kultur auf die Homosexuellen ausgeübt wurde.

Bei einem solch ehrgeizigen Projekt bleibt es natürlich nicht aus, dass bezüglich der Vollständigkeit des analysierten Materials Abstriche gemacht werden müssen. Aus deutschem Blickwinkel ist so zum Beispiel zu bemängeln, dass in dem Kapitel, das die Konstruktion lesbischer Identität aus literarischer Sicht behandelt, zwar Radclyffe Hall, Nathalie Barney, Colette, Vita Sackville-West und Virginia Woolf ausführlich behandelt werden, aber für den deutschen Roman der 20er Jahre - Der Skorpion von A.E. Weirauch - nur wenige Zeilen übrig bleiben. Problematischer erscheint mir allerdings der gewählte Zeitraum. Während ein Vergleich der drei Länder beziehungsweise Metropolen für die 20er Jahre durchaus logisch erscheint, ist der Vergleich des nationalsozialistischen Deutschlands mit den Demokratien England und Frankreich ungleich schwieriger. Trotz dieser komplizierten Ausgangssituation gelingt Tamagne der vergleichende "Balanceakt", da sie die für Deutschland geltende Zäsur des Jahres 1933, verbunden mit der Einführung zahlreicher Repressionsmechanismen gegenüber Homosexuellen, in einem Schlusskapitel (la fin d'un rêve: l'explosion du modèle allemand) gesondert behandelt.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob eine Geschichte der Homosexualität in Europa überhaupt geschrieben werden kann. Neben den beiden Einschränkungen Zeitraum und Länder/Städte erscheint es doch sehr fraglich, ob dies überhaupt möglich ist, ohne zwischen männlicher und weiblicher Homosexualität zu differenzieren. Eine Geschichte der lesbischen Liebe im europäischen Kontext sähe sicherlich ganz anders aus. Florence Tamagne ist sich aber durchaus bewusst darüber, dass sie mit ihrer Geschichte der Homosexualität in Europa keine endgültige Arbeit vorlegen, sondern vor allem einen Anstoß geben kann, weniger Nationalgeschichte zu betreiben, indem Homosexualität in einem europäischen Kontext betrachtet wird.




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