Drei Neuerscheinungen zur Verfolgung homosexueller Männer im Nationalsozialismus

Rezension von Jürgen Müller, Köln

Erschienen in Invertito 2 (2000)

Andreas Pretzel / Gabriele Roßbach: "Wegen der zu erwartenden hohen Strafe..."

Homosexuellenverfolgung in Berlin 1933-1945, Kulturring in Berlin e.V. (Hg.), Berlin: Verlag Rosa Winkel 2000, 348 S., 32 DM
 

Das Buch von Andreas Pretzel und Gabriele Roßbach basiert auf der Auswertung von mehr als 2.000 Prozessakten Berliner Gerichte zur Strafverfolgung homosexueller Männer. Damit wird ein umfassender Einblick in die Verfolgung homosexueller Männer im Zentrum der Homosexuellensubkultur des Reiches ermöglicht. Ein Team von sechs AutorInnen hat insgesamt 24 Artikel verfasst.

Im ersten Teil wird in sechs Artikeln die Verfolgung homosexueller Männer anhand von Sachthemen bearbeitet; im zweiten Teil werden 17 Lebensläufe erzählt. Ergänzt wird das Buch durch einen Überblick über die Berliner Homosexuellen-Szene im Dritten Reich und eine Chronologie zur nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung.

Konzept des ersten Kapitels ist, die einzelnen Aspekte der Verfolgung darzustellen, veranschaulicht durch zahlreiche Beispiele. So im Artikel von Andreas Pretzel über Anzeigen und Denunziationen, wo im Abschnitt "Beobachtungen in der Öffentlichkeit" deutlich wird, durch welche zufälligen Beobachtungen auf der Straße, im Park oder in Lokalen sich "Normalbürger" berufen fühlten, die Polizei einzuschalten, wenn sie glaubten, Homosexuelle vor sich zu haben. Pretzel vermittelt nicht nur einen Einblick in die "Volksseele", sondern belegt zudem, welchen permanenten Gefahren sich Homosexuelle ausgesetzt sahen. Die Artikel zu "Polizeilichen Ermittlungen" (Andreas Pretzel) und zu "Verhören bei Gestapo und Kripo" (Gabriele Roßbach) setzen sich mit den Methoden der Polizei auseinander. Spannend und erschütternd sind die Schilderungen von Andreas Pretzel über die Verhältnisse in den Konzentrationslagern. Zum Beispiel brachten sexuelle Dienste gegenüber Blockältesten Vergünstigungen und vergrößerten damit die Überlebenschancen. Gleichzeitig bestand immer die Gefahr, bei Entdeckung durch die Lagerleitung als Stricher eingestuft und bestraft zu werden. Eindrücklich beschreibt Pretzel wie das "Pfahlhängen", eine der häufig verhängten Lagerstrafen, eingesetzt wurde, um Geständnisse über homosexuelle Vergehen zu erpressen.

Ärgerlich ist der Artikel von Ursula Meinhard über Urteile der Berliner Strafgerichte. Sie wertet zahlreiche dieser Urteile aus. Pauschalisierende Aussagen und unkommentierte Urteile führen aber insgesamt zu einem falschen Bild. So schreibt sie, dass Strafrichter in den meisten Fällen den Empfehlungen der Gerichtsmediziner folgten, wenn diese bei "hartnäckigen Homosexuellen" die Entmannung forderten (S. 103). Sie unterlässt es jedoch, sich mit der gesetzlichen Einschränkung auseinander zu setzen, dass solche Anordnungen eine strafbare Handlung nach § 176 RStGB voraussetzten. Im Abschnitt über den Griff an das bedeckte Geschlechtsteil suggeriert sie in der Nebeneinanderstellung von Urteilen zwischen 9 Monaten Gefängnis und drei Jahren und acht Monaten Zuchthaus, dass der gleiche Tatbestand so unterschiedlich bestraft wurde (S. 105f.). Nur der kundige Leser wird die im NS-Strafrecht bedeutsamen Unterschiede der Straftaten erkennen: Das unterschiedliche Strafmaß hing nämlich vorwiegend davon ab, ob ein "gewöhnlicher" Homosexueller, ein sogenannter Verführer oder ein "Sittlichkeitsverbecher" die "Tat" beging.

Der Artikel zur Statistik erschlägt durch die Fülle der Zahlen. Hier wäre es wohl besser gewesen, die verschiedenen Erhebungen bzw. Auswertungen in die einzelnen Artikel zu integrieren.

Das zweite Kapitel besteht aus 17 kurzen, eindrucksvoll geschilderten Lebensbildern homosexueller Männer. Die Quelle dafür sind Strafakten, die außer der Rekonstruktion der Verfolgung - gegen den Strich gelesen - die Beschreibung des Alltags von Homosexuellen ermöglichen. Andreas Pretzel schildert z.B. die Liebesgeschichte zwischen einem homosexuellen und einem bisexuellen Mann, voller Liebe und Eifersucht, aufgezeichnet anhand zahlreicher beschlagnahmter persönlicher Briefe. Beeindruckend sind auch die Schicksale jener Männer, die glaubten, sich vor Polizei und Justiz verteidigen zu können. Der kaufmännische Angestellte Walter D. z.B. gesteht bei der Polizei freimütig und bittet vor Gericht um ein beschleunigtes Verfahren, da er in seiner Firma dringend gebraucht werde. Er erhält im Januar 1939 nach einer 20minütigen Verhandlung wegen Vergehen nach § 175 RStGB eine Strafe von einem Jahr und drei Monaten Gefängnis. Ein wichtiges Buch, das auf einem Schatz an Quellen basiert, die noch viele interessante Forschungsergebnisse erwarten lassen.

Joachim Müller / Andreas Sternweiler: Homosexuelle Männer im KZ Sachsenhausen

Schwules Museum Berlin (Hg.), Berlin: Verlag rosa Winkel 2000, 286 S., 36 DM
 

Zu diesem Buch haben zehn AutorInnen zusammen 24 Beiträge geliefert. Joachim Müller und Andreas Sternweiler haben dabei nicht nur die Hauptartikel verfasst, sondern sind zugleich auch Initiatoren der Ausstellung "Verfolgung homosexueller Männer in Berlin 1933-1945" (gezeigt in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen und im Schwulen Museum Berlin) und Herausgeber dieses Begleitbandes.

Der einleitende Artikel von Andreas Sternweiler (Chronologischer Versuch zur Situation der Homosexuellen im KZ Sachsenhausen) ist ein Musterbeispiel, wie man anhand von Splitterbeständen verschiedenster Quellengattungen, statistischem Material und unter Einbeziehung von allgemeinen Darstellungen zum Konzentrationslager Sachsenhausen ein differenziertes Bild von der Lage homosexueller Männer in einem KZ vermitteln kann. Ein Leistung, die für fast alle Artikel des Buches gilt. Sternweiler führt eindringlich vor Augen, wie dramatisch sich der KZ-Alltag für Homosexuelle zwischen Herbst 1939 und Sommer 1943 verschlechterte. Die bisher bekannten Berichte über die Gräueltaten im Klinkerwerk, "Höhepunkt des systematischen Mordes an Homosexuellen" (S. 46), lassen sich so besser einordnen.

Eine Stärke des Buches ist, dass die unterschiedlichsten Facetten des KZ-Alltags beleuchtet werden. Joachim Müller schreibt über die Isolierungsbaracken, in denen die homosexuellen Männer abgesondert untergebracht waren, die Strafkompanie der Schuhläufer und die Mordaktionen im Klinkerwerk. Andreas Sternweiler beleuchtet einen bisher in der Forschung nicht beachteten Aspekt des KZ-Alltags, wie sich Homosexuelle mit Freundschaft und Solidarität gegenseitig stützen konnten. In drei weiteren Artikeln geht Sternweiler auf unterschiedliche Gruppen von Homosexuellen im Lager ein: Häftlinge aus der Schwulenbewegung, der Jugendbewegung und schließlich jüdische Homosexuelle. Ihm gelingt es dabei (anders als Hoffschildt in seiner unten vorgestellten Arbeit), einen konkreten Bezug zum Lager Sachsenhausen herzustellen, der über die Feststellung hinausgeht, dass die verschiedenen Gruppen im selben KZ inhaftiert waren.

Diesen Vorzug haben auch die zahlreichen ausführlichen Lebensbilder homosexueller Häftlinge des KZ Sachsenhausen. Sie machen einerseits das Leben und Leiden des Einzelnen sichtbar und vermitteln andererseits in ihrer Summe einen konkreten Einblick in die Lebensverhältnisse einer der Häftlingsgruppen des Lagers. Hinzuweisen ist schließlich auf den Artikel von Susanne zur Nieden über die Ausgrenzung von Homosexuellen nach 1945. Dem Artikel liegt ein Aktenbestand des "Hauptausschusses Opfer des Faschismus" der Jahre 1946-1948 zu Grunde. Wie sich die Weigerung von Politik und Gesellschaft, den Homosexuellen den Opferstatus zuzuerkennen, in ihrem weiteren Lebensweg niederschlug, beschreiben eindrucksvoll die Porträts von Walter Schwarze (Joachim Müller), Paul Hahn (Rainer Hoffschildt), Albert Christel (Manfred Ruppel), und Heinz Heger (Kurt Krickler).

Dass es bei der Vielzahl der Autoren und der unterschiedlichen Herangehensweise an ein Thema zu inhaltlichen Überschneidungen kommt, lässt sich wahrscheinlich nicht vermeiden. Unnötig erscheint dagegen die Klage einiger Autoren, wie wenig über die Homosexuellen in der Erinnerungsliteratur hinterlassen wurde. Das vorliegende Werk zeigt, dass mit Akribie und Phantasie neue Quellen erschlossen und ausgewertet werden können. Mit schon Bekanntem kombiniert, ergeben sie ein interessantes und aufklärendes Bild über die Lage der homosexuellen Männer im KZ Sachsenhausen.

Rainer Hoffschildt: Die Verfolgung der Homosexuellen in der NS-Zeit.

Zahlen, Schicksale aus Norddeutschland, Berlin: Verlag rosa Winkel 1999, 195 S., 29,80 DM
 

Rainer Hoffschildt zeigt mit seinem Buch vor allem eines: dass es noch viele Quellen zu entdecken gilt. Es ist schier unglaublich, welche und wie viele Quellen er gefunden hat. Ziel seiner Publikation ist es, einen Beitrag zur Aufarbeitung der Homosexuellenverfolgung in Niedersachsen zu leisten. Eine Grundlage dafür hat er mit seiner Arbeit ohne Zweifel gelegt: Sie ist zugleich Anregung und Ansporn für weitere lokal- und regionalgeschichtliche Beschäftigung mit diesem Thema.

Die Arbeit ist in fünf Kapitel gegliedert: Kapitel eins mit allgemeinen Betrachtungen zur Verfolgung der Homosexuellen; Kapitel zwei bis vier beschäftigen sich mit den Emslandlagern, den Konzentrationslagern und den Zuchthäusern und in Kapitel fünf berichtet Hoffschildt über die Todesurteile. Neben allgemeinen Hinweisen und Anmerkungen zu den verschiedenen Haftorten stellt er Einzelschicksale vor. Die einleitenden Darlegungen zur Verfolgung der homosexuellen Männer wie auch die folgenden Kapitel durchzieht ein grundlegender Fehler. Er betrifft das Verständnis des Himmler-Erlasses vom 12. Juli 1940, der nicht alle Homosexuellen betraf, die wegen homosexuellem Verkehr mit mehr als einem Mann verurteilt wurden (§ 175 RStGB), sondern nur die, die nach § 175a, 3 RStGB als sogenannte Verführer eingestuft wurden. Diese Unterscheidung war für das Schicksal des Betroffenen von grundlegender Bedeutung.

Die Einzelporträts sind und können - wie Hoffschildt in der Einleitung anmerkt - teilweise nur stichwortartig sein. Ein methodische Problem ergibt sich hier in der Verknüpfung von Haftort und Schicksal. Der Bezug wird oftmals nur über die Daten des Aufenthaltes im Lager vermittelt. So erfährt man aus den Falldarstellungen kaum etwas über die Haftbedingungen und die Lebensumstände am jeweiligen Ort. Dadurch wirken die Einzelschicksale teilweise beliebig. Aus der großen Zahl der Kurzporträts ragen die Schilderungen der Schicksale des homosexuellen Pädophilen Alexander Ebbinghaus und des Kommunisten und Homosexuellen Paul G. Vogel deutlich hervor. Sie vermitteln das, was an anderer Stelle manchmal fehlt: einen konkreten Einblick in die Lebensbedingungen und das Leiden homosexueller Häftlinge in den Emslandlagern.




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