Tilmann Walter:
Unkeuschheit und Werk der Liebe.

Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland (Studia Linguistica Germanica, Bd. 48), Berlin / New York: de Gruyter 1998, 597 S., 248 DM

Rezension von Jakob Michelsen, Hamburg

Erschienen in Invertito 2 (2000)

Es gibt für das deutsche Sprachgebiet noch recht wenige sexualgeschichtliche Studien, die auf dem dekonstruktivistischen Paradigmenwechsel basieren, der die internationale Forschung seit den 1980er Jahren so nachhaltig verändert hat. Ein großer Teil der Historiographie über den "Sex" und seine Bedeutungen behandelt "Sexualität" noch immer als überhistorische Größe, die entweder unterdrückt oder befreit werden kann. Für die Zeit seit dem 16. Jahrhundert wird häufig entweder eine zunehmende Repression durch bürgerliche Körperfeindlichkeit bzw. absolutistische Sozialdisziplinierung angenommen oder aber eine allmähliche Befreiung des mündigen Individuums von den Fesseln der christlichen Moral. In dem vorliegenden Buch unternimmt es der Sprachwissenschaftler Tilmann Walter, alle diese Repressionshypothesen einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Als Quellen wählte er deutschsprachige gedruckte Schriften des 15. und 16. Jahrhunderts aus den Bereichen Theologie, unterhaltende Literatur und Medizin. Sein methodischer Leitfaden ist die Diskursanalyse in Anlehnung an Michel Foucault.

Walter konstatiert Widersprüche von verschiedenen Seiten gegen den prinzipiellen Sexualpessimismus des katholischen Dogmas, das selbst dem Sex in der Ehe misstraute: Die unterhaltende Literatur (Schwänke u.ä.) spiegelte eine weltlich-bürgerliche "Patchwork-Ethik", in der die kirchlichen Lehren nur ein Element von mehreren waren und in der beispielsweise vorehelicher Sex eher als amüsantes Gesellschaftsspiel denn als Todsünde erscheint. Mediziner vertraten - basierend auf heidnisch-antiken Autoritäten - die Auffassung, maßvoller Sex sei zur Regulierung des Säftehaushalts notwendig. Die theologischen Vordenker des Protestantismus erklärten den ehelichen Sex für gottgewollt und gut, absichtliche Jungfräulichkeit und Priesterzölibat hingegen seien ebenso sündhaft wie jeder nichteheliche Sex.

Im Mittelpunkt von Walters Analysen steht die Heterosexualität; zum gleichgeschlechtlichen Sex und Begehren gibt seine Studie weniger her. Was er zur Verdammung der "Sodomie" durch die katholische Lehre zu sagen hat, geht nicht über Bekanntes hinaus. Die protestantischen Theologen wichen in diesem Punkt nicht von der überkommenen Lehre ab. Daher wird deren partieller Widerspruch zur katholischen Sexualtheologie in unhaltbarer Weise überstrapaziert, wenn Walter schreibt: "Das Reden über den ehelichen Sex hat schließlich [im 19./20. Jahrhundert; J.M]) auch weitere, vorher unbekannte moralische Positionen möglich gemacht: das wohlwollende Sprechen von der Masturbation, von den gleichgeschlechtlichen Erfahrungen, von den ureigensten privaten und intimen Ausprägungen der Lust" (S. 150) Entscheidende Faktoren wie die Aufklärung werden hier ausgeblendet. Zur Thematisierung abweichenden Sexualverhaltens in den medizinischen Schriften macht Walter keine konkreten Angaben und liefert stattdessen allgemeine Exkurse zu den Begriffen "Sodomie" und "Perversion".

In der Dichtung konstatiert Walter zum Thema "Sodomie" weitgehendes Schweigen und keinerlei Widerspruch gegen die kirchliche Lehre. Wenn gleichgeschlechtlicher Sex überhaupt erwähnt wird, dann negativ, zum Beispiel in Form von Beleidigungen wie "arschminner" oder "arschbrauter". Der Einfluss humanistischen Gedankengutes mit seinem Rückgriff auf antike Autoren wie Platon bewirkte keine Milderung der Verurteilung der Sodomie. Eine sehr dezente, mokante Anspielung bei Johann Fischart auf das Verhältnis zwischen Sokrates und Alkibiades scheint das Weitestgehende zu sein, das die deutschsprachige Belletristik dieser Zeit bietet. Mit Recht stellt Walter in Frage, ob das gesellschaftliche Klima im damaligen Italien - wie oft behauptet wird - toleranter war als in Deutschland. Diese Frage bedürfte noch einer eingehenderen Untersuchung, die unter anderem zwischen lateinischen und volkssprachlichen Texten differenzieren müsste. Dass gelehrte Autoren dem nicht der alten Sprachen mächtigen Publikum allzu "Anrüchiges" bewusst vorenthielten, hat kürzlich Sven Limbeck anhand der frühneuzeitlichen Plautus-Übersetzungen gezeigt. Falls aber tatsächlich südlich der Alpen ein freizügigeres Klima geherrscht haben sollte, vermutet Walter, könnten die polemischen Auseinandersetzungen der Reformationszeit hierzulande zu größerer moralischer Rigidität beigetragen haben - eine interessante Hypothese, die zur näheren Überprüfung einlädt.

Nach dem Eindruck des Rezensenten hätte Walter aus den - wenn auch spärlichen - Quellen zum Thema "Sodomie" noch etwas mehr herausholen können. Stattdessen referiert er Ergebnisse anderer ForscherInnen wie John Boswell, Helmut Puff / Wolfram Schneider-Lastin, Bernd-Ulrich Hergemöller und Judith Brown. Aufschlussreich wäre ferner eine Konfrontation der normativen und literarischen Texte mit der Praxis gewesen; genannt sei nur die Empfehlung der Kölner Universitätstheologen an den Rat im Jahre 1484, aus pragmatischen Gründen auf eine nähere Untersuchung bekannt gewordener Sodomievorwürfe zu verzichten. Vor allem aber wäre es interessant, gerade das Phänomen des Schweigens über die Sodomie näher zu beleuchten. Walter versäumt es, auf das in der Forschungsliteratur mehrfach beschriebene Sprechtabu in Bezug auf die "stumme Sünde" hinzuweisen. Offenbar war dieses so wirksam, dass nicht einmal die Schwankdichter über das Thema lachen konnten oder es nicht öffentlich wagten.

Hergemöllers These von einer verstärkten "standesübergreifenden Repressionsatmosphäre" gegen Sodomiter im späten Mittelalter lehnt Walter mit der unhaltbaren Begründung ab, die häufigeren Belege für obrigkeitliche Verfolgungsmaßnahmen seien allein durch die vermehrte Schriftlichkeit der Verwaltung zu erklären. Es gab aber keineswegs lediglich mehr Akten, sondern auch neue Gesetze und Institutionen wie das venezianische "Collegium contra sodomitas". Zu kritisieren ist Hergemöllers These vielmehr insofern, als von einer standesübergreifenden Verfolgung überhaupt nicht und von einer systematischen nach bisherigem Kenntnisstand nur in einigen italienischen Städten die Rede sein kann.

Walters Fazit lautet, dass sich aus den Quellen kein geradliniger, einheitlicher Entwicklungsprozess ablesen lasse, vor allem kein solcher im Sinne einer wie immer gearteten zunehmenden Sexualrepression. Vielmehr habe es stets eine Pluralität teilweise widersprüchlicher Diskurse gegeben. Gleichzeitig sei in der europäischen Geschichte seit der Spätantike statt eines ständigen Wandels eher eine Kontinuität im Diskurs der Führungsschichten über den Sex festzustellen: der normative Primat der Heterosexualität, der Genitalität, der Unterordnung der Frau unter den Mann, das Telos der Fortpflanzung. Es habe lediglich einen Austausch der normbegründenden Instanz gegeben: von der "Natur" über "Gott" wieder zur "Natur". Das bedeute aber nicht unbedingt, dass diese Normen durchgängig von einer breiten Mehrheit akzeptiert und befolgt worden seien.

Verdienstvoll ist, dass Walter bisher nicht oder wenig beachtete Widersprüche und kontroverse Elemente in den Schriften des 15. und 16. Jahrhunderts aufzeigt. Einen "Einheitsdiskurs" über den Sex dürfte es in der Tat niemals gegeben haben. Aber bei aller berechtigten Kritik an Verallgemeinerungen und Einseitigkeiten in den diversen Modernisierungs- und Repressionstheorien: Walter neigt in ärgerlichem Maße dazu, Herrschaftsverhältnisse und gesellschaftliche Unterdrückung bis zur Unkenntlichkeit zu relativieren und hinwegzudiskutieren. Auf das patriarchale Geschlechterverhältnis als grundlegende Rahmenbedingung für die Diskurse über den Sex geht Walter nur punktuell und analytisch schwach ein. Gleiches gilt in noch stärkerem Maße für soziale und Standeshierarchien. Stattdessen polemisiert er in unerfreulich pauschaler Weise gegen jede Wissenschaft mit explizit emanzipatorisch-politischem Anspruch, ob feministisch, lesben-schwulenbewegt oder marxistisch-links orientiert. Unklar und widersprüchlich bleibt, was er positiv dagegen setzen will: Auch wenn er sich vehement vom Postulat objektiver Wissenschaft abgrenzt, schimmert dieses gelegentlich doch durch. Mal stellt er in dekonstruktivistischem Sinne fest, dass es eine außersprachliche Realität - auch des Körpers - nicht gebe, dann wieder spricht er dennoch von der "Autonomie" des Körpers und der Lüste und versteigt sich in diesem Zusammenhang an einer Stelle sogar zu einer Verharmlosung männlicher Vergewaltigungsphantasien (S. 243). Seine Ignoranz gegenüber feministischen Forschungsansätzen führt dazu, dass er beispielsweise mit dem Schweigen der Quellen über weibliche "Homosexualität" nichts anzufangen weiß und die wenig einsichtige Vermutung aufstellt, die weibliche Lust sei deshalb für weniger schwerwiegend als die männliche gehalten worden, "weil die weibliche Libido ohnehin als unbezwingbar gegolten hat" (S. 276). Lillian Fadermans zu diesem Thema grundlegendes Buch Surpassing the Love of Men zitiert er gar nicht erst. Einige der von ihm kritisierten Thesen hat er offensichtlich nicht verstanden, etwa diejenige von der Polarisierung der Geschlechtscharaktere in der bürgerlichen Gesellschaft.

Foucaults These von der Konstruktion des Sexualitätsdispositivs durch die moderne Sexualwissenschaft verkürzt Walter in unzulässiger Weise, wenn er dieses bereits in der reformatorischen Ehe- und Sexualtheologie angelegt sieht. Er übersieht ein zentrales Element des modernen Sexualitätskonzeptes: dass es zur Grundlage der Konstituierung der gesamten Persönlichkeit gemacht wird. Davon findet sich in den von Walter untersuchten Quellen noch keine Spur. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Walter hier die Heterosexualität als Ausgangspunkt nimmt und nicht, wie Foucault, die von der Norm abweichenden Lüste.

Walters textimmanente Vorgehensweise, überwiegend losgelöst von sozialgeschichtlichen und politischen Zusammenhängen, ist ebenfalls fragwürdig. Die gesellschaftliche Funktion der Texte reduziert Walter auf "Sprachspiele" und rhetorische Verschiebungen. Gelegentlich führt dieses Vorgehen zu einem fahrlässigen Umgang mit den Quellen: So stützt Walter Aussagen über Marsilio Ficinos Terminologie in dessen Buch des Lebens auf eine deutsche Übersetzung aus dem Jahre 1505, obwohl es auf der Hand liegt, dass mit möglichen Diskrepanzen zwischen Originaltext und Übersetzung gerechnet werden muss.

So bleibt insgesamt ein sehr zwiespältiger Eindruck: Walter bietet anregende Thesen und interessante Einzelergebnisse. Sein methodischer Ansatz ist jedoch inkonsistent und ein Beispiel für die Gefahr, dass "postmoderne" Theorieelemente, halb verdaut und mit entsprechendem Willen, auch in eine fragwürdige Beliebigkeit führen können.




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