Wolfgang Beutin / Rüdiger Schütt (Hg.):
"Zu allererst antikonservativ".

Kurt Hiller (1885-1972), Hamburg: edition fliehkraft 1998, 199 S., inklusive CD "Kurt Hiller liest eigene Texte", 25 DM

Rezension von Jakob Michelsen, Hamburg

Erschienen in Invertito 1 (1999)

"Ich bin orthodoxer Anti-Opportunist, [...]. So handelte ich mein Leben lang – und so werde ich auch noch nach meinem Tode handeln; (den ich nicht anstrebe)." Diese Sätze, die Kurt Hiller 1971 in einem seiner letzten Briefe schrieb, könnten als Lebensmotto des streitbaren Homosexuellen-Aktivisten, revolutionären Pazifisten, linken Publizisten und expressionistischen Literaten dienen, der vom späten Kaiserreich bis in die ersten Jahrzehnte der BRD eine äußerst produktive Wirksamkeit entfaltete. Seit Mitte der achtziger Jahre hat sich in Hamburg ein Kreis, darunter ehemalige Freunde, Hillers Leben und Werk angenommen. Aus diesem Umfeld ging auch der hier angezeigte Sammelband hervor, begleitend zu einer kleinen Ausstellung in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek.

Thomas Bleitner beschreibt in seinem Beitrag informativ und stringent Hillers schriftstellerische Anfänge bis zum Ersten Weltkrieg, genauer: seinen Weg vom literarischen Ästhetizismus über die Forderung nach einem ethisch verpflichteten ästhetischen "Aktivismus" hin zur explizit politisch-aktivistischen Publizistik, die in der Gründung der Jahrbuch-Reihe Das Ziel 1916 einen ersten Höhepunkt fand. Überzeugend ordnet Bleitner Hillers Entwicklung in diejenige des literarischen Expressionismus ein, der nicht zuletzt aufgrund seiner zunehmenden Politisierung in den ersten Jahren der Weimarer Republik ein großes Echo finden sollte. (Hiller war übrigens der erste, der den aus der bildenden Kunst entlehnten Begriff "Expressionismus" auf die Literatur anwandte.)

Nach der Machtübernahme der NSDAP musste Hiller KZ-Terror und schwere Misshandlungen erdulden, bis er 1934 nach Prag fliehen konnte. Nach dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei führte sein Weg weiter nach London, wo er bis zu seiner Rückkehr in die BRD und der Niederlassung in Hamburg blieb. Hillers Wirken im Exil behandelt Andreas Stuhlmann. Er bietet aufschlußreiche Informationen über Hillers Freundschaften und Feindschaften, etwa über seine Auseinandersetzungen mit der Exil-KPD. Besonders interessant ist der Hinweis auf einen Angriff, den die ebenfalls emigrierte Journalistin Gabriele Tergit 1941 im Manchester Guardian gegen Hiller richtete: Sie bezichtigte ihn, ein päderastischer "Jugendverführer" und Wegbereiter des Faschismus zu sein und bezog sich dabei auf frühere Verbindungen Hillers zu den Jugendbewegungs- und Männerbundideologen Gustav Wyneken und Hans Blüher. Leider analysiert Stuhlmann nur ansatzweise die ideologischen Überschneidungen und Differenzen zwischen den drei Angegriffenen. Ungeachtet fundamentaler Unterschiede zeigen sie alle in ihrem Denken elitäre Züge, die teilweise in gefährliche Nähe zum Führerkult geraten. Während Blüher und Wyneken sich den NS-Machthabern anzudienen versuchten, war und blieb Hiller jedoch immer Antifaschist. Stuhlmann versäumt es, auf den Zusammenhang dieser Affäre mit dem im antifaschistischen Exil verbreiteten Stereotyp des "homosexuellen Nazis" hinzuweisen, das von Jörn Meve und Alexander Zinn untersucht wurde. Eine Schwäche des Aufsatzes ist, dass er überwiegend im Deskriptiven steckenbleibt.

Jan Bürger schildert das Hassverhältnis zwischen Hiller und seinem ebenfalls männerliebenden Hamburger Schriftstellerkollegen Hans Henny Jahnn. Persönliche und ideologische Gegensätze griffen ineinander. Während der Ratio-Vergötterer Hiller das Antirationale in Jahnns Werken verabscheute und diese schlicht als Blut-und-Boden-"Myst" abtat, brachte Jahnn in bezug auf Hiller antisemitische Wutausbrüche zu Papier. Ärgerlicherweise versucht Bürger, wenn auch vorsichtig, diese mit sattsam bekannten Persilschein-Argumenten (jüdische FreundInnen) zu relativieren.

Georg Fülberth setzt sich mit Hillers spannungsvollem Verhältnis zum Marxismus auseinander. Philosophisch stand Hiller in Gegensatz zum Historischen Materialismus, da er als Nietzsche-Verehrer vom freien, rationalen Willen des Individuums ausging, den Geist über die Materie stellte und historische Zwangsläufigkeiten negierte. Dennoch näherte er sich politisch um des gemeinsamen Zieles Sozialismus willen in den 20er und 30er Jahren zeitweise der KPD. Auch nach dem Bruch mit dem stalinistischen Parteikommunismus wurde er niemals ein Propagandist des Kalten Krieges. Ärgerlich in dem ansonsten lesenswerten Aufsatz ist Fülberths fast demonstrative Ignoranz gegenüber dem Stellenwert, den der Kampf gegen die Homosexuellendiskriminierung und -verfolgung für Hiller hatte. Er erwähnt, daß Hiller sich in seinen Stellungnahmen zur Sowjetunion während der 30er Jahre zustimmend auf André Gide bezog, unterschlägt aber, welche Rolle in der Kritik beider Schriftsteller die repressive Sexualpolitik unter Stalin (erneute Kriminalisierung der Homosexualität 1934) spielte – und das, obwohl Hiller diesem Thema Artikel in der Exilpresse widmete!

Mit einem sonderbaren Detail in Hillers Biographie beschäftigt sich Kai-Uwe Scholz: mit seiner Unterstützung des Alt-Nazis und rechten Publizisten Kurt Ziesel, der noch in den 80er Jahren zum Umkreis von Bundeskanzler Helmut Kohl gehörte. Was den Antifaschisten Hiller bewog, in Ziesel einen Bundesgenossen und "ehrenhaften Konservativen" zu sehen, war, dass dieser sich als "geläuterter" Nazi präsentierte und die NS-Vergangenheit zahlreicher Schriftsteller und Journalisten enthüllte. Hiller übersah, dass Ziesel als kulturkonservativer Reaktionär Repräsentanten der literarischen Moderne, die "Formzerstörer", treffen wollte, indem er ihre alten "Sünden" ausgrub, während er völkische Autoren, die ihre Gesinnung nicht geändert hatten, ungeschoren ließ.

Einen wichtigen Teil des Buches bilden persönliche Erinnerungen von und Briefwechsel mit Freunden und Weggefährten. Hierzu gehören unter anderem der Hamburger Literaturwissenschaftler Wolfgang Beutin, der Bremer Jurist Klaus Hübotter sowie die Hamburger Schriftsteller Peter Rühmkorf und Peter Schütt. Erfreulicherweise lösen sie den Anspruch ein, den die Herausgeber im Vorwort formulieren: keine "Heiligenverehrung" zu betreiben, sondern eine kritische Würdigung zu liefern. Bei dem Ex-DKPler Peter Schütt scheint allerdings sein inzwischen religiös gefärbtes, penetrantes Renegatentum durch. Sehr plastisch wird Hillers Rolle als Mentor junger linker Literaten und Intellektueller in den 50er und 60er Jahren. Hiller vermittelte ihnen die durch das "Tausendjährige Reich" verschütteten literarischen Traditionen der Weimarer Republik und des Exils und gab ihnen hierdurch wichtige Anregungen. Andererseits war seine Beziehung zu ihnen ein hierarchisches Meister-Jünger-Verhältnis; Widerspruch wurde nicht geduldet und führte schnell zum totalen Bruch. Hier treten Hillers engstirnige und rechthaberische Züge nur zu deutlich hervor. Als die meisten seiner "Schüler" sich in den 60er Jahren der aufkommenden Studierendenbewegung zuwandten, hatte das die Entfremdung von ihrem alten "Lehrer" zur Folge, der den Schah von Persien verteidigte und nach seinem Bruch mit der Zeitschrift Konkret – für die er eine Zeitlang geschrieben hatte – deren Kolumnistin Ulrike Meinhof mit wüsten Beschimpfungen bedachte. Hillers elitäres Konzept einer Herrschaft der "Geistigen" ("Logokratie") und die Rezeption marxistischer Theorien durch die entstehende Neue Linke waren miteinander nicht vereinbar. Diese Beiträge bieten interessante Bausteine zu einer Geschichte der bundesdeutschen Linken und zur Vorgeschichte der 68er-Bewegung. Allerdings erfährt man nichts darüber, wie Hillers Homosexualität von seinen zeitweiligen Adepten – anscheinend eine überwiegend heterosexuelle reine Männerrunde – wahrgenommen wurde.

Insgesamt bietet das Buch viel wertvolles Material für eine noch zu schreibende Hiller-Biographie. Allerdings kleben die meisten Beiträge stark an der Person, nur selten erfolgt die Einordnung in einen allgemeineren Kontext (am ehesten im Beitrag von Bleitner). Vor allem aber ist zu monieren, dass Hiller als Homosexueller fast gar nicht und wenn, dann nur en passant vorkommt. Das Buch leistet keinen Beitrag zur Überwindung der unsinnigen Aufspaltung der Hiller-Rezeption in eine heterosexuell-linke und eine schwule, ja, es fällt in dieser Hinsicht sogar hinter ältere Veröffentlichungen zurück. Um ein besonders gravierendes Beispiel zu nennen: In der Zeittafel im Anhang fehlt jeder Hinweis auf Hillers schwulenpolitisches Engagement. Soviel Ignoranz kann nicht mehr als Versehen gewertet werden, sondern lässt geradezu Absicht vermuten.

Während für diejenigen, die Hiller als Literaten und Pazifisten erforschen, seine Homosexualität offenbar immer noch ein zu vernachlässigender "Nebenwiderspruch" ist, pflegen die Schwulenforscher ihn ausschließlich als Vorkämpfer der Homosexuellen-Emanzipation wahrzunehmen. So wird etwa im Katalog zu der großen Berliner Ausstellung Goodbye to Berlin? 100 Jahre Schwulenbewegung (1997) mit keinem Wort erwähnt, dass Hiller auch in anderen Bereichen aktiv war. Es ist zu wünschen, dass in künftigen Veröffentlichungen Hillers sexualpolitische Aktivitäten in Beziehung zu seinem übrigen Denken und Tun gesetzt werden. Ansätze hierzu finden sich in der lesenswerten Rezension Karl-Heinz Deschners zum zweiten, dem Eros-Band von Hillers Lebenserinnerungen Leben gegen die Zeit, die 1972 in der Frankfurter Rundschau erschien und in der Hamburger Ausstellung zu sehen war. Dort bildete sie übrigens das einzige Exponat, das auf Hillers Homosexualität hinwies.




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