Kirsten Plötz:
Einsame Freundinnen?

Lesbisches Leben während der zwanziger Jahre in der Provinz, (Werkstatt Texte, SchwulLesbische Studien Bremen, Bd. 4), Hamburg: MännerschwarmSkript Verlag 1999, 109 S., 26 DM

Rezension von Claudia Schoppmann, Berlin

Erschienen in Invertito 1 (1999)

Wer sich mit lesbischem Leben in der Weimarer Republik beschäftigt, wird schnell feststellen, dass sich die wenigen Darstellungen und Untersuchungen fast ausschließlich auf Berlin beziehen. Dies ist nicht von ungefähr so, denn Berlin galt schon damals als Homo-Eldorado, auch wenn die Wirklichkeit keineswegs immer so rosig oder "golden" war, wie heute im verklärenden Rückblick bisweilen behauptet wird. Dennoch: In Berlin befanden sich nicht nur das von Magnus Hirschfeld gegründete Wissenschaftlich-humanitäre Komitee und das Institut für Sexualwissenschaft sowie der von Friedrich Radszuweit geleitete Bund für Menschenrecht, die größte Emanzipationsorganisation in der deutschen Geschichte, mit (eigenen Angaben zufolge) 48.000 Mitgliedern. Hier existierten auch verschiedene kleinere Zusammenschlüsse und Vereine, und es gab zahlreiche Lokale und Treffpunkte, die einem lesbischen oder homosexuellen Publikum offenstanden. In der Reichshauptstadt wurden auch mehrere Zeitschriften herausgegeben, die sich an lesbische Leserinnen richteten, darunter die dem Bund für Menschenrecht nahestehende und 1924-33 erscheinende Freundin sowie ab 1926 die Frauenliebe (ab 1930 Garconne).

Die subkulturelle Infrastruktur war also zweifellos in Berlin am ausgeprägtesten, was unter anderem aus zeitgenössischer Sicht Ruth Margarete Roelligs Clubführer von 1928, Berlins lesbische Frauen, dokumentiert, in dem die Schriftstellerin 14 "Damenklubs" beschreibt. Sicher haben die Anonymität der Metropole und das vergleichsweise liberale Klima in dieser Stadt dazu beigetragen, dass hier überdurchschnittlich viele lesbische Frauen (und schwule Männer) lebten bzw. herzogen. War doch die soziale Kontrolle deutlich geringer als in einer Kleinstadt oder auf dem Land und die Möglichkeit, der Isolation zu entfliehen, weitaus größer als in der "Provinz". Aber natürlich konnte oder wollte nicht jede Frauenfreundin in einer Großstadt bzw. in Berlin leben. Doch wie gestaltete sich das Leben außerhalb der Metropole, wie kamen sie in Kontakt mit Gleichgesinnten, welche Probleme hatten sie beispielsweise in der Familie, am Arbeitsplatz, mit ihrer Umgebung? Diesen Fragen widmete sich die Hannoveraner Historikerin Kirsten Plötz in ihrer Magisterarbeit, die jetzt in überarbeiteter Form als Buch vorliegt.

"Zentral war für mich die Frage", schreibt Kirsten Plötz im Vorwort, "wie sich das damals moderne lesbische Selbstverständnis auf jene Frauen auswirkte, die nicht in der schillernden Metropole Berlin lebten. Wie attraktiv war dieses Selbstverständnis, wer hatte teil an der neu entstehenden Sub- und Gegenkultur, wie machte es sich bemerkbar, wenn sie keinen Zugang zu den Lokalen, Organisationen und Zeitschriften hatten?"

Die Vorstellung, homosexuell "veranlagt'' zu sein, sei für das Selbstverständnis vieler lesbischer Frauen im ersten Drittel dieses Jahrhunderts fundamental gewesen, stellt die Autorin im ersten Kapitel zu Recht fest. Die Auffassung, dass es sich bei Homosexualität um ein konstitutionelles Merkmal handle, war insofern positiv, als eine angeborene Veranlagung weder krank- noch sündhaft sein konnte. Nichtsdestotrotz gehörten sie jedoch einer nach wie vor stigmatisierten Minderheit an, was unterschiedliche Auswirkungen auch auf das Selbstbild hatte.

Im zweiten Kapitel beschreibt Kirsten Plötz, wie sich das Leben in der "Provinz" in den Zeitschriften für "Freundinnen" spiegelte. Heute, wo kaum noch Zeitzeuginnen über diese Jahre des Aufbruchs berichten können, sind diese Periodika eine wichtige Quelle für die Geschichtsschreibung. Sie waren über Abonnementbezug in ganz Deutschland (und darüber hinaus) erhältlich und stellten für viele Leserinnen eine ausgesprochen wichtige Verbindung zu Gleichgesinnten dar. Dies zeigt sich unter anderem in Leserinnenbriefen. "Ich kann ohne diese Zeitschrift 'Garconne' nicht mehr sein, da ich doch mit meinen Artgenossinnen in Fühlung bleiben möchte [...]", schreibt etwa eine Frau aus Karlsruhe. Und eine andere Leserin aus einer Kleinstadt schildert auf bedrückende Weise, zu welchem Doppelleben und Versteckspiel sie sich gezwungen sah. Vor allem durch eine nur in Ansätzen (wenn überhaupt) vorhandene Subkultur und eine intolerantere Umwelt scheint sich die Situation in der "Provinz" von jener in Berlin unterschieden zu haben. Eine Möglichkeit, dem etwas entgegen zu setzen, stellten die Kontaktanzeigen dar – eine Möglichkeit, die häufig genutzt wurde. So versuchte manche Frau, auf diesem Weg eine Lebensgefährtin oder einen Kreis von Gleichgesinnten zu finden – oder einen Ehepartner für eine Scheinehe.

Über diese privaten "Problemlösungen" hinaus dokumentieren die Zeitschriften auch die Versuche/Ansätze zum Aufhau von lokalen bzw. regionalen Netzwerken. In akribischer Kleinarbeit hat die Autorin im ersten Kapitel die Hinweise auf Lokale, Gruppierungen, Feste und Veranstaltungen zusammengetragen – von B wie Barmen-Elberfeld bis Z wie Zwickau. Als Orte der möglichen Begegnung mit Gleichgesinnten waren diese Treffpunkte von großer Bedeutung, auch wenn der Zugang zu ihnen aus finanziellen oder räumlichen Gründen für viele vielleicht nur selten möglich war. Zum Teil waren diese Gruppen in die überregionalen Emanzipationsbestrebungen – z.B. des Bundes für Menschenrecht – eingebunden. So reiste etwa die Leiterin des Berliner Damenklubs "Violetta", Lotte Hahm, im Sommer 1929 zwecks Gründung eines Damenklubs nach Hamburg. Offenbar mit Erfolg, wie der Presse wenig später zu entnehmen war.

Dass Hamburg, das etwa wie Köln über eine ausgeprägte Subkultur verfügte, hier zur "Provinz" gezählt wird, mag zunächst überraschen, denn die Situation in diesen Städten war doch eher mit der in Berlin als mit den Verhältnissen in einer Kleinstadt vergleichbar. Diese geographisch radikale Ausweitung des Begriffs ist aber wohl in erster Linie dem Mangel an entsprechenden lokalen Untersuchungen geschuldet – und solange in Kauf zu nehmen, bis die Homo-Geschichtslandkarte weniger weiße Flecken aufweist.

Während quellenbedingt im Mittelpunkt der drei ersten Kapitel Frauen stehen, die sich selbst als lesbisch oder homosexuell verstanden (auch wenn sie vielleicht andere Begriffe dafür benutzten), widerspiegelt das letzte Kapitel eine andere Perspektive. Am Beispiel der Studienrätin Anna Phillips aus dem norddeutschen Geestemünde – heute zu Bremerhaven gehörend – wird deutlich, wie konfliktreich die modernen sexualwissenschaftlichen Ansichten individuell erlebt werden konnten, führten sie doch auch zu einer schärferen Grenzziehung zwischen "Normalität" und pathologischer "Andersartigkeit". So konnten Frauenfreundschaften, die bislang als "harmlos" galten, nun leicht in den Ruf kommen, untragbar zu sein und die gesellschaftlichen Grenzen von Sitte und Anstand zu überschreiten.

Ausgangspunkt war eine zunächst im Privaten geführte Debatte zwischen der I881 geborenen Anna Phillips und verschiedenen ihrer Kolleginnen zu Anfang der 20er Jahre über die Art ihrer Beziehungen – besonders auch im Hinblick auf ihre Schülerinnen. Doch je öffentlicher die Debatte und die gegenseitigen Beschuldigungen wurden, um so brisanter wurde es, denn der Vorwurf des Amtsmissbrauchs und der "Verführung" von Zöglingen drohte.

Obwohl dieser Vorwurf, der tatsächlich auch bald von der Schulbehörde gegen Phillips erhoben wurde, wohl jeder Grundlage entbehrte, führte er zur Versetzung der Lehrerin bis hin zur Zwangspensionierung. Im Zuge der jahrelangen Auseinandersetzung verfasste Phillips eine Broschüre, in der sie ihren hartnäckig geführten Kampf "um Ehre und Recht'', sprich Rehabilitation darstellte und dank derer wir überhaupt von dieser Angelegenheit wissen. Anhand der amtlichen Dokumente dürfte es allerdings schwierig zu beurteilen sein, was von den Aussagen als authentisch und was als Schutzbehauptung zu werten ist. Doch ob Phillips selbst lesbisch war oder nicht, ist im Grunde zweitrangig. Das Beispiel – das sich im Übrigen wohl genauso gut bzw. schlecht in einer Großstadt hätte zutragen können – zeigt, wie schmal der Grat zwischen akzeptiertem und sanktioniertem Verhalten sein konnte. Besonders dann, wenn es sich nicht um das Freizeitvergnügen einer x-beliebigen Frau drehte, sondern um das vermeintlich jugendgefährdende Verhalten einer Lehrerin in exponierter Stellung.

Indem Kirsten Plötz den Blick weitet und auf das Leben von "Freundinnen" außerhalb von Berlin richtet, trägt sie dazu bei, eine Forschungslücke zu füllen und lesbische Alltags-Geschichte(n) nachvollziehbar zu machen.




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