Bernd-Ulrich Hergemöller:
Sodom und Gomorrha.

Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter, Hamburg: MännerschwarmSkript Verlag 1998, 216 S., 36 DM

Rezension von Andreas Niederhäuser, Basel

Erschienen in Invertito 1 (1999)

Die Publikation des an der Universität Hamburg lehrenden Mediävisten Bernd-Ulrich Hergemöller Sodom und Gomorrha. Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter basiert auf sieben überarbeiteten und aktualisierten Aufsätzen aus den Jahren 1986 bis 1995. Die Studie wartet dementsprechend nicht mit neuen Forschungsergebnissen und Thesen auf, sondern trägt die Arbeit langjähriger Forschungen zusammen und versucht, "übergreifende und exemplarische Informationen über das Leben und Leiden der männerliebenden Männer in den rund eintausend Jahren zwischen 500-1500 zu vermitteln" (Einleitung). Die weitgehend in sich geschlossenen Kapitel beleuchten die unterschiedlichsten Aspekte des Themas Homosexualität im Mittelalter, wobei das Hauptinteresse Hergemöllers offensichtlich der Repressions- und Verfolgungsgeschichte gilt. So zeichnet er die Entwicklung des einschlägigen Strafrechts von der Römischen Republik bis zu den Preußischen Staaten nach (2. Aufsatz), legt die von ihm bereits an anderer Stelle publizierten Kölner Quellen zu verschiedenen Sodomiefällen in einer kommentierten Neuedition vor (5. Aufsatz) und zeigt detailliert die Arbeit des sogenannten Collegium contra sodomitas auf, das im spätmittelalterlichen Venedig für die zum Teil äußerst grausame Verfolgung der Sodomiter zuständig war (6. Aufsatz). In der Auseinandersetzung mit dem vom Franziskaner Dietrich Kolde 1485 veröffentlichten Christenspiegel skizziert er zudem den antisodomitischen theologischen Diskurs, der wesentlich den ideologischen Hintergrund für die Verfolgung der Homosexuellen im Mittelalter lieferte (7. Aufsatz). Daneben finden sich Anmerkungen zu terminologischen Grundfragen, etwa dem Problem, dass das Mittelalter den Begriff der Homosexualität noch gar nicht kannte (1. Aufsatz), der Versuch einer Annäherung an "homosexuelles Alltagsleben" im Mittelalter, wobei als Quellen auch hier weitgehend nur Quellen der Verfolgungsgeschichte zur Verfügung stehen (3. Aufsatz) und eine Auseinandersetzung mit der im deutschsprachigen Raum wohl aufgrund der Sprachbarriere kaum diskutierten Studie des inzwischen verstorbenen US-amerikanischen Historikers John Boswell über "Same-Sex Unions", d.h. gleichgeschlechtliche eheähnliche Verbindungen im Mittelalter (4. Aufsatz). Hergemöller entwirft in diesen sieben Aufsätzen das Bild einer mittelalterlichen Gesellschaft, die mit größter Repression und für uns nicht nachvollziehbaren Grausamkeit unterschiedslos alle "Sodomiter" verfolgte und wenn immer möglich ausmerzte, ohne aber verhindern zu können, dass sich immer wieder Gleichgesinnte fanden und unter bestimmten Umständen sogar so etwas wie "homosexuelle Subkulturen" bilden konnten.

Mit der thematischen Breite und der Fülle der zusammengetragenen Quellenbeispiele, die die lange und intensive Auseinandersetzung Hergemöllers mit dem Thema dokumentieren, wird dem Anspruch, ein "wissenschaftliches Nachschlagewerk" (S. 8) zu sein, ohne Zweifel eingelöst. Das Weglassen des üblichen Anmerkungsapparates zugunsten eines nach Kapiteln und Stichworten geordneten Beleg- und Quellenverzeichnisses soll die Lesbarkeit und allgemeine Verständlichkeit erhöhen, wobei anzumerken ist, dass für einen Laien wohl weniger die Anmerkungszahlen als der von Hergemöller weitgehend beibehaltene wissenschaftliche Sprachduktus und die Terminologie (z.B. "Syndromatik des Devianzverhaltens", S. 69) die entscheidende Hürde darstellen, ein solches Buch zur Hand zu nehmen.

Hergemöller selbst thematisiert die Schwierigkeit einer übergreifenden Geschichte "der Homosexuellen im Mittelalter" (S. 76) und tatsächlich ist es eine entscheidende Schwäche der Publikation, dass die zum Teil frappanten und nicht immer nur auf die unterschiedliche Quellenlage zurückzuführenden Unterschiede vor allem im Bereich der Verfolgungsgeschichte zugunsten problematischer Verallgemeinerungen verwischt werden. So wird m. E. zu sehr der Eindruck erweckt, die im Spätmittelalter relativ konstante und intensive Verfolgung der Homosexuellen in den norditalienischen Metropolen Florenz und Venedig sei für alle europäischen Gesellschaften typisch gewesen. Zumindest im deutschsprachigen Raum blieb die strafrechtliche Verfolgung der "Sodomiter" im entsprechenden Zeitraum jedoch sporadisch und im Verhältnis zu andern Sexualdelikten eher marginal. Sie hing zudem ganz wesentlich vom Sozialstatus und der Schichtzugehörigkeit der Betroffenen ab. Begriffe wie "flächendeckende Vernichtungswellen" sind daher so irreführend wie der Vergleich mit der mittelalterlichen Judenverfolgung (S. 152) oder die Behauptung, so wie die Hexenverfolgung prinzipiell jede Frau bedroht habe, hätte die "Sodomiterverfolgung [...] generell jede männliche Person einer existentiellen Bedrohung" (S. 45) ausgesetzt. Auch andernorts stößt man auf Aussagen und Formulierungen, die eher befremdend sind, etwa wenn "die Inquisitoren förmlich im Blut [...] waten" und "homosexuelle Subkulturen brutal vernichtet werden" (S. 46). Verwirrend ist auch die kommentarlose Gleichsetzung von Transvestiten, Transsexuellen und Homosexuellen. Hergemöllers Engagement für die Sache führt zudem mehrfach zu einer m.E. nur schwer nachvollziehbaren Auslegung der Quellen, etwa wenn der ohne Zweifel derbe Brauch der Kölner Salzmesser, den jungen Gesellen die Geschlechtsteile mit Salz einzureiben, ohne weitere Erklärungen als homosexuelles Verhalten ausgelegt wird (S. 53 und 143). Auch an anderen Stellen genügt dem Autor oft der vageste Hinweis auf "besondere" Beziehungen zwischen Männern, um über mögliche erotisch-sexuelle Partnerschaften zu spekulieren, wobei sich das "Besondere" dieser Beziehungen in der Regel erst durch unsere von modernen Beziehungsmustern geprägte Interpretation ergibt.

Der im Zusammenhang mit Ausführungen über die Verbindung von Homosexualität und Delinquenz erwähnte Fall des 1577 in St. Gallen hingerichteten Mordbrenners Hans Koller ist zudem ein Beispiel für einen wenig sorgfältigen Umgang des Autors mit den Quellen. So behauptet Hergemöller, dass Koller neben seiner Homosexualität zusätzlich Mord und Brandstiftung vorgeworfen wurde (S. 69), während er in einem anderen Zusammenhang schreibt, dass dieser enthauptet worden sei, „weil ihm neben seinen Tötungsdelikten die "Ketzerei wider die Natur" vorgeworfen wurde (S. 21) – ein feiner, für die Interpretation aber wichtiger Unterschied. Tatsächlich wurde Koller als Mitglied einer Mordbrennerbande festgenommen und gestand im Verlaufe des Verhörs zusätzlich auch sexuelle Vergehen ein. Ein Blick in die Originalquelle im Stadtarchiv St. Gallen – Hergemöller stützt sich auf eine für ihre Fehlerhaftigkeit berüchtigte Rechtsgeschichte der Stadtrepublik aus dem Jahre 1951 – zeigt allerdings, dass es sich bei diesem sexuellen Vergehen nicht um Homosexualität, sondern um sexuellen Umgang mit Tieren handelte. Zudem wurde er nicht wegen seiner ‘Ketzerei’ enthauptet, denn sowohl auf Ketzerei im Sinne der Homosexualität wie der Bestialität stand auch in St. Gallen der Feuertod, weswegen sein Körper nach der Hinrichtung denn auch verbrannt wurde. Das Privileg der Enthauptung als ehrenvollste Hinrichtungsform dürfte er erhalten haben, weil er in der Bande nur eine untergeordnete Funktion hatte und zu den meisten Taten gezwungen wurde.

Leider mangelt es auch in anderer Hinsicht teilweise an Sorgfalt. Basel war keineswegs ein Kanton (S. 21), sondern Freie Reichsstadt. Wortneuschöpfungen wie das bereits erwähnte "Syndromatik" oder Formulierungen wie "unterbürgerliche Personen" vermögen nicht zu überzeugen, und Begriffe wie "außerdeutsches Europa" (S. 47) sind eher befremdend.

Angesichts der inhaltlich breiten Darstellung des Themas, der Fülle der zusammengetragenen Quellen, der vielfältigen Anregungen für weitere und eigene Forschungen und nicht zuletzt wegen des spürbaren Engagements des Autors ist die Publikation trotz der skizzierten Schwächen als Überblicks- und Einstiegslektüre dennoch sehr empfehlenswert.




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