Burkhardt Riechers
Freundschaft und Anständigkeit
Leitbilder im Selbstverständnis männlicher Homosexueller in der frühen Bundesrepublik
Übersicht des Beitrags
Menschen-, Welt- und Gesellschaftsbilder, hier bezeichnet als "Leitbilder", die Homosexuelle in der frühen Bundesrepublik in ihren Zeitschriften konstruierten, wurden in hohem Maße gesteuert vom Zeitgeist der frühen Bundesrepublik mit tabuisierter Sexualität und kriminalisierter männlicher Homosexualität sowie durch die behördliche Zensur, die angebliche "Jugendschutzbelange" durchsetzte. Stereotype Zuschreibungen "Homosexueller" und "Homosexualität" sollten durch die "Leitbilder" außer Kraft gesetzt werden. "Leitbilder" der zumeist bildungsbürgerlich orientierten und wissenschaftsgläubigen Homosexuellen in den 50er und 60er Jahren waren nicht nur "Humanität und Toleranz", die sie durch "wissenschaftliche Aufklärung" erwarteten. Auch sublimierte "Freundschaft", die keinen direkten Bezug zur Sexualität aufkommen lassen sollte, und die "griechische Antike", die nach Meinung von Autoren und Lesern der Zeitschriften hierfür als Vorbild dienen konnte, gehörten zu den wichtigsten "Leitbildern". Die Autoren der Zeitschriften waren eifrig darum bemüht, an der "Männlichkeit" Homosexueller keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Im Mittelpunkt des Diskurses in den Homosexuellen-Zeitschriften stand vor allem das Bestreben, das Gebaren des einzelnen Artgenossen so festzulegen, dass dieser in der Öffentlichkeit unter keinen Umständen negativ auffiel. Denn Homosexuelle hatten Angst, ihr Verhalten könne antihomosexuelle Vorurteile bestätigen. Die Tatsachen, dass die verschärfte Strafgesetzgebung gegen gleichgeschlechtliche Handlungen aus dem Jahre 1935 nach 1945 beibehalten und die furchtbaren nationalsozialistischen Repressionen wie KZ-Haft und Zwangskastrationen bis Mitte der 60er Jahre öffentlich nicht thematisiert wurden, verhinderten, dass das "nationalsozialistische KZ-Opfer" in den Homosexuellen-Zeitschriften zu einem eigenen neuen "Leitbild" nach 1945 wurde.